Die Schlagernacht.

Oh Kultgesang - oh heilige Hallen! Am 9. 5. war es endlich wieder soweit: Eurovision Song Contest live aus Brüssel.

Wie fast ganz Europa saßen Max, Ilona und ich vor dem Bildschirm, Wertungstabellen und Notizzettel bereit. Offensichtlich hatten die belgischen Organisatoren meinen Artikel über die deutsche Vorentscheidung gelesen, gab es doch einige auffallende Parallelen: In der Dekoration wurde nicht auf eine überdimensionale Mottenkugel verzichtet, die sich neben dem großen Haufen Bauschutt (oder alten Dosen) auf der Bühne ganz reizend ausmachte. Victor Laszlo, die Moderateuse, setzte Akzente in der Ohrringfrage - Max erkannte es sofort: Bei so einem Ereignis gibt man sich mondän und international und trägt zwei Ohrringe. Frau Laszlos Hänger waren ungewöhnlich prachtvoll; da zu den zugeschalteten Ländern auch die Sowjetunion gehörte, fragte ich mich, ob jetzt am Montag 200 Millionen Russen die Läden stürmen und solche Ohrringe verlangen.

Ansonsten erwies sich Madame als Klammertante und krallte Mikro und Zettelchen mit beiden Händen wie ein Priester die Hostie bei der Wandlung. Ihre Arme steckten in den Kleiderärmeln wie in Schultüten, in die man Wasser reingießen kann.

Zum Erfolg jedes Grand Prix tragen die deutschen Moderatoren nicht unwesentlich bei, unser Pärchen ließ zwar einen Haufen Mist ab, doch verdanken wir ihm auch so wertvolle Informationen wie zum Beispiel die Tatsache, daß Brüssel eine Stadt ist, "wo man von einer Kneipe in die andere fällt" oder daß Königin Fabiola das Hackbrett beherrscht, aber Probleme mit der Gitarre hat. Nach einem eher unerfreulichen Intermezzo (Frau L. mußte sich auch noch gesanglich produzieren), ging es dann endlich los.

Für Norwegen sang Kate Gulbrandsen, die sogar ein "World Pop Festival" gewonnen hatte, leider erfuhr man nicht welches, und am Schluß des Liedes fragte keiner mehr. Der erste (und fast absolute) Tiefpunkt war mit dem israelischen Beitrag erreicht: Zwei dickliche jiddische Blues Brothers (Datener + Kushnir) gaben etwas zum Besten, das im Wesentlichen aus "hupa hulle hulle" bestand. Die "Pat und Patachon des Semiten-Pop" scheuten auch nicht vor einem Handstand zurück, es war schrecklich, für Sekunden fühlte ich Sympathien für die PLO.

Das viertemal dabeigewesen zu sein, konnte sich Österreichs charmantester Pop-Export, Gary Lux, rühmen, der in der englischen Teenie-Musikpresse geradezu hymnisch gefeiert wird. Sein anspruchsvolles "Nur noch Gefühl" gefiel uns recht gut, souverän und mit augenzwinkerndem Basedow, ersang er für das tapfere kleine Land einen verdienten drittletzten Platz.

Und dann geschah das Wunder: Es wurde plötzlich licht und hehr, eine bildschöne Frau betrat die Bühne und sang mit lieblicher Stimme (begleitet von einem hübschen Pianisten) ein innig schlichtes Lied (Haegt og hljott). Wer das war? Natürlich Halla M. Arnadottir aus Island! Die junge Elfe aus dem Land der Geysire interpretierte ein Werk des hübschen Pianisten, der es eines Abends nach dem Genuß des Inhalts einiger "winzig kleiner" (Max) Rotweinflaschen ersann (seine Schwester entwarf übrigens Hallas Kleid). Ab jetzt waren Max und ich wahre Island-Fanatiker, und begleiteten bei der späteren Wertung jede Auslassung dieses netten Völkchens mit Buh-Rufen und Pfiffen.

Leider besitzen nicht alle Länder Stil und Schamgefühl, wie uns Liliane St. Pierre für Belgien deutlich vor Augen führte: Pazifisten-Pop mit eingeblendetem Marschieren und maschinengewehrimitierenden Gitarristen gehört leider zum Peinlichsten überhaupt. Da die Vorjahressiegerin Sandra Kim (das zwölfjährige Hampelvötzchen) in wallonisch, der hiesigen verbauerten Abart des Französischen, gesungen hatte, mußte der diesjährige Beitrag in Flämisch erklingen, was die Sache auch nicht mehr rettete.

Pech für Schweden, daß in den Liedertiteln keine Markennamen erwähnt werden dürfen, daher zirpte Lotta Engberg ihren Ikea-Reggae über Boogaloo statt Coca Cola.

Raff und Tozzi fielen etwas aus dem Rahmen, wagte sich Herr Tozzi doch als irischer Kneipenschwabe in versyphten Jeans auf die Bühne. Raff wurde einstimmig für "hübsch" befunden. Das Lied klang wie der Italo-Soft-Boot-Mix Vol. 27, die deutsche Jury, geistig offenbar schon in Rimini, belohnte das Machwerk dann auch mit der Höchstpunktzahl.

Es ist doch merkwürdig: Während die Skandinavier nie ganz schlecht sind, gelingt es den Romanen nie, auch nur irgendwie gut zu sein. Was allerdings für Portugal die Gruppe Nevada darbot, ging an die Grenze zur Körperverletzung. "Sowas heißt, glaube ich, knödeln", war Maxens fachmännisches Urteil über den Sänger, dessen Beitrag an den verpopten Aufruf zur Nelkenrevolution von 1974 gemahnte (Che Guevara Pop). Im Hintergrund standen einige Rotkreuzhelferinnen rum, natürlich ohne Ohrringe, dafür trug eine sogar eine Brille - der einzige mutige Mensch an diesem Abend. Ich möchte nicht wissen, wieviele der Anwesenden "Künstler" nach der Show in die Garderobe sprinteten, um sich endlich die verdammten Kontaktlinsen aus den Äuglein zu quetschen.

Patricia Kraus legte Zeugnis ab vom tiefgreifenden Wandel, den Spanien seit Francos Tod erfahren hat. Traten früher noch hochgeschürzte Intellektuelle auf, so hüpfte heute eine Domina im Gummikorsett und mit mindestens 25 Spiralarmreifen über die Bühne, stieß alle Momente "oje oje - he he" aus, und zuckte und gestikulierte mit den Händen wie ein wildgewordener Teufelsaustreiber. Aus unerfindlichen Gründen warf sie gleich am Anfang ihren neongrünen Schal mit einer Trotzgebärde zu Boden.

Flott ging es weiter mit Seyyal Tanner, die kubanisch-türkisches Aerobic darboten. Unsere galoppierenden Stimmungskanonen erhielten trotz Fransen an der Jacke insgesamt nur Null (0) Punkte. Hoffentlich ist so ein Ergebnis nicht Wasser auf die Mühlen islamischer Fundamentalfanatiker.

Die schönste Charakterisierung erhielt die Französin Christine Minier von den Moderatoren: "sie wußte bis vor kurzem nicht, daß sie überhaupt Sängerin ist". Das Wissen scheint nicht größer geworden zu sein; nach mehr als siebenjähriger Arbeit als Friseuse singt sie wie eine Dauerwelle für 39,90 DM aus dem Frisurenshop - ein Beleg für die These, daß die Basis den Überbau bestimmt. Anti-europäisch, wie die Franzosen nun einmal sind, beharrte sie in trotzigem pseudo-Individualismus auf nur einem Ohrring.

Ein Land bekam nicht mal einen Punkt
Diese Tabelle zeigt, wie gut (oder schlecht) die einzelnen Grand-Prix-Länder abschnitten. Hier die Punktzahl:
Irland 172
Deutschland 141
Italien 103
Jugoslawien 92
Niederlande 83
Dänemark 83
Zypern 80
Israel 73
Norwegen 65
Griechenland 64
Belgien 56
Schweden 50
England 47
Frankreich 44
Finnland 32
Island 28
Schweiz 26
Portugal 15
Spanien 10
Österreich 8
Luxemburg 4
Türkei 0


Für Island und die Dänen war "Wind" die Nummer 1
Diese Tabelle zeigt, wieviele Punkte die einzelnen Länder-Jurys der deutschen "Wind"-Gruppe für das Lied "Laß die Sonne in dein Herz" gaben:
Island 12
Dänemark 12
Österreich 10
Belgien 10
Holland 10
England 10
Finnland 10
Israel 8
Schweden 7
Irland 7
Jugoslawien 7
Türkei 6
Luxemburg 6
Frankreich 6
Zypern 6
Portugal 5
Italien 4
Norwegen 3
Spanien 1
Schweiz 1
Griechenland 0


Unser Favorit war Italien
Diese Tabelle zeigt, wem die deutsche Grand-Prix-Jury Ihre Punkte gegeben hat:
Finnland 1
Portugal 2
Zypern 3
Belgien 4
Frankreich 5
Irland 6
Norwegen 7
Israel 8
Island 10
Italien 2

Als die Moderatoren erzählten, daß Ralph Siegel immer ein dreißig Jahre altes Papierschweinchen von seinem Vater als Talisman dabeihabe, war die Zeit für "unseren" Beitrag gekommen: "the group with the rather indelicate name 'Wind' " (BFBS-Sprecher).

Komischerweise waren sie, besonders im Vergleich zum Rest, gar nicht so schlecht. Besser war allerdings Alexia Vasiliou aus Zypern, und zu unserer großen Freude gab Griechenland bei der Wertung "Schypre duhse poang".

Auch Finnlands Rocklady Vicky Rosti wußte zu gefallen: Max ernannte sie zur "grausamen Stimme des Nordens". Wie seit über 20 Jahren leitete der unverwüstliche Ossi Runne das Orchester.

Starteten für Griechenland zwei blondierte Exildänen, so leistete sich Dänemark eine dunkle Exilgriechin, die aber trotzdem Anne-Cathrin Herdorf hieß und "Ein bißchen Frieden" im 87er Remouladen-Remix brachte.

Dann wurde es nochmal ästhetisch, ein alter Bekannter, Johnny Logan, ganz in weiß, ein typischer hübscher britischer Arbeitslosen-Popmusiker, schmachtete für Irland, von einigen Meßdienern im Hintergrund geistlich und stimmlich unterstützt.

Novi Fosili, Jugoslawiens Beitrag zum Rockabilly, wurde von uns zunächst als sicherer Kandidat für den letzten Platz gehandelt, um so entsetzter waren wir, als sie eine Viertelstunde lang die Wertung anführten. Am Ende reichte es nur für Platz 4. Obwohl... ein Lied für Zagreb 1988? Nicht übel...

Caroline Rich aus der Schweiz machte sich sofort unbeliebt, als man erfuhr, es handele sich bei ihr um die schreckliche Kombination einer ausgebildeten Opernsängerin und begeisterten Fußballspielerin. Manche Menschen haben kein Schamgefühl.

Während nun im Showblock ein Flötist die Ode an die Freude vergewaltigte, wobei Sterne, Flugzeuge und Ballettänzer über den Bildschirm wirbelten, hatten die Juries die schwierige Aufgabe, bei 22 Liedern, die fast alle sub-sowjietisches Niveau besaßen, graduelle Unterschiede der Niveaulosigkeit festzustellen und zu benoten. Als erster Preis winkte immerhin eine Kristallpyramide einer belgischen Kristallmanufatkur, und als Johnny Logan eine halbe Stunde später frühzeitig als Sieger feststand, stellte ich fest, der junge Mann habe nur gewonnen, weil ich mir vor vier Wochen auf dem Flohmarkt die irischen Siegertitel von 1970 (Dana) und 1980 (Johnny Logan) gekauft hatte.

Enttäuscht über das Abschneiden Islands hetzte Max noch gegen Viktor Laszlo (Strickliesel-Puppe, Maggie Thatcher des Showbiz mit ihrem betonierten Dauerlächeln), während ich mir eine Rechenaufgabe ausdachte:

Wenn Wind alle zwei Jahre für Deutschland singt und Johnny Logan alle sieben Jahre für Irland, wie oft werden sie sich in diesem Jahrtausend noch beim Grand Prix begegnen? Lösungsvorschläge nimmt "Ich und mein Staubsauger" dankend entgegen.

Auf Wiedersehen in Dublin 1988,
Michael Gerhardt [07|87]

Als die rassige Victor Laszlo 500 Millionen Fernseh-Zuschauer von der Bühne unterm Brüsseler Atomium begrüßte, kullerte einer seine runden Augen: "Stark is dat, und Hannilein is dabei!" Tatsächlich war Hape Kerkeling, natürlich neben Super-Komponist Ralph Siegel, der einzige prominente Deutsche, der den Grand Prix hautnah erleben durfte. Und das noch in der Reihe, wo auch "Königs" in Person von Prinzessin Paola und Prinz Albert ihre blaublütige Anwesenheit demonstrierten.

Da erklang natürlich die Nationalhymne, und alles erhob sich feierlich von den Plätzen. Hannilein - das bleibt er wohl noch lange nach "Känguru"-Schluß flüsterte ergriffen: "Ist das schön, wie Kinder-Kommunion."

Woher NEUE WELT das so genau weiß? Die Autorin hatte nämlich das Glück, die einzige Pressekarte für das europäische Ereignis zu ergattern. Und hatte neben allem Stereo-Genuß auch Hannileins Extra-Kommentare im Ohr.

Ja, die Lazlo, die fand Hape ganz toll, nur die "Spielzeug-Ohrringe" irritierten ihn etwas. Überhaupt, die Klamotten... Belgiens Vertreterin Liliane Saint Pierre erinnerte ihn stark an unsere Caterina Valente im Zorro-Look, die Holländerin Marcha an Mary und Gordy. Und die Spanierin Patricia Kraus hatte sein ganzes Mitgefühl, weil sie wohl vor dem Auftritt keine Zeit mehr fand, ihr Kleid überzustreifen. Riesig kam die Isländerin bei Hape an: "Super! Dafür, daß sie bisher nur vor Eisbären gesungen hat."

Nun glauben Sie nicht, daß Blödel-Hanni keine Ahnung von Musik hat Er tippte sofort auf Jonny Logan als Sieger und sein frenetischer Applaus für unsere "Wind"-Gruppe war dem zweiten Platz echt angemessen.

Ach ja, bleibt noch anzufügen, daß Hape nach dem dritten Glas Sieges-Schampus ein persönliches Bekenntnis ablegte: "Mit Isabell Varell, das ist was ganz Ernstes. Heirat inbegriffen." Uff, das wird dann ganz bestimmt Deutschlands turbulenteste Ehe werden!


Diese Meisterleistung der deutschen Journalistik möchten wir ihnen nicht vorenthalten. Du wissen warum du lesen Staubsauger?

© 1987 Ich und mein Staubsauger    [Zurück zum Titel]